Heil und Leid – ein Widerspruch?

image001Ein Impuls von Frater Philipp.

Leid – Kreuz – Gottverlassenheit – Tod: Das sind Themen, über die ich mir nicht nur in diesen Tagen Gedanken gemacht habe. Seit gut zwei Jahren beschäftige ich mich mit der Materie Palliativarbeit, Sterbe- und Trauerbegleitung. In Berührung kam ich damit erstmals über einschlägige Literatur, konkret über die „Zeugnisse Sterbender“ von Dr. Monika Renz, Leiterin der Psychoonkologie am Kantonsspital St. Gallen. Von September 2018 bis Jänner dieses Jahres besuchte ich den „Einführungskurs in die Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung“ am Wiener Kardinal König Haus. Das in dieser Ausbildung vorgesehene 40stündige Praktikum konnte ich im Februar auf der Palliativstation im Klinikum Wels absolvieren – als Seelsorgspraktikum. Die große Ironie des Schicksals: Ich selbst hatte als Jugendlicher aufgrund einer schweren Tumorerkrankung mit Gott und dem Glauben gebrochen und habe dann mehr als zehn Jahre lang einen privaten und aus heutiger Sicht irrwitzigen Kleinkrieg gegen Gott geführt. Dazu gehörte auch, Krankenhausseelsorger, die sich mir vorstellten, umgehend wieder aus dem Zimmer zu werfen.

Leid, Kreuz, Gottverlassenheit und Tod – sie gehen dem höchsten Fest des christlichen Glaubens unmittelbar voraus und lassen auf den ersten Blick wahrlich nichts Schönes oder gar Freudiges erahnen. Es sind Themen, die wohl jeden von uns schon in irgendeiner Weise betroffen haben oder vielleicht auch gerade jetzt betreffen. Im 4. Hochgebet heißt es „… Er hat wie wir als Mensch gelebt, in allem uns gleich außer der Sünde. …“. Also auch Jesus Christus in seinem unmittelbaren Zugehen auf seinen Tod kannte natürlich all diese Erfahrungen, die mit Leid einhergehen:

  • Angst – Jesus hat im Garten Getsemani „Blut geschwitzt“, und er wollte in jenen Stunden nicht allein sein. „… Und er nahm Petrus, Jakobus und Johannes mit sich. Da ergriff ihn Furcht und Angst …“ (Mk 14, 33 ff.)
  • Auflehnung/Verhandeln – Jesus betet in Getsemani „… Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! …“ (Mk 14, 36)
  • Annahme des Leids – „… Aber nicht, was ich will, sondern was du willst, soll geschehen …“ (ebd.)
  • Gottverlassenheit – der leidende Christus lehnt sich nochmals auf, seinen Vater anklagend, wenn er schon sterbend noch beginnt, Ps 22 zu beten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen …“
  • „… Jesus rief laut: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist. Nach diesen Worten hauchte er seinen Geist aus …“ – In Jesu Tod, so wie beispielsweise Lukas ihn in 23, 46 beschreibt, ist für mich entscheidend, dass Jesus sich in all seinem Leid, in seinem Sterben letztlich doch in Gottes Hand weiß.

Das Kreuz mag für viele ein verstörendes, weil grausames, Symbol sein. Es kommt aber auch nachweislich vor, dass sich sogar der eine oder andere Priester mit dem Kreuz schwertut, und dass daher das Altarkreuz dann vor Beginn der Messfeier kurzerhand im Blumenschmuck des Altars verschwindet! Welch ein Hohn wäre das in den Augen von vielen leidenden oder sterbenden Menschen! Monika Renz schreibt darüber in einem ihrer Bücher und berichtet von einer Patientin wie folgt: „… Im Zusammensein mit solchermaßen extrem Leidenden habe ich Kernaussagen der christlichen Religion neu begriffen: Warum ist der ohnmächtig am Kreuz hängende Gott so zentral? Ärgernis für die Starken, Rettung für die Ohnmächtigen: So musste die Botschaft vom Kreuz schon bald nach Jesu Tod bei den Menschen angekommen sein. Zwiespältig sind die Reaktionen noch heute, außer im Leiden.

Eine 70-Jährige äußerte »Solange es mir gut ging, konnte ich nichts anfangen mit diesem elenden Kreuz. Karfreitag hätte aus der Agenda gestrichen werden sollen. Jetzt ertrage ich nur noch diesen Gott, der mir nicht helfen kann, auch wenn er wollte. «. …“ Und an anderer Stelle schreibt sie: „… Ein vom Schicksal hart getroffener Vater sagte: »Der einzig erträgliche Gedanke an Gott ist der seinerseits verhöhnte Christus am Kreuz. « Die Leidenden kämen sich in ihrem Elend noch mehr ausgegrenzt und verlassen vor, wenn nicht ein Gott gedacht und gefühlt werden dürfte, der ins Leid der Welt selbst eingestiegen ist. Sie ertragen nur einen Gott, der weiß, wie sich solche Zustände anfühlen. …“.

Seit ich mich mit der Thematik Krankheit, Palliativarbeit, Sterbebegleitung und Krankenhausseelsorge so intensiv befasse, tauchte in Literatur und Seminaren immer wieder ein Denkansatz auf, der sich kurzfassen lässt: „Wenn medizinisch keine Heilung mehr möglich ist, geht es immer noch um Heil!“. Ich habe das während meines eingangs erwähnten Praktikums zweimal sehr eindrücklich erlebt: Zwei Besuche bei ein und demselben Patienten. Ich wurde von den Schwestern informiert, dass der Patient ein sehr gläubiger Mensch Anfang 50 sei und Krebs mit Wirbelsäulenmetastasen und entsprechenden Lähmungserscheinungen habe. Bei meinem ersten Besuch fallen mir sofort bei Betreten des Zimmers Messingkreuz, Gebetbuch, Rosenkranz und Weihwasserflacon auf, die er liebevoll auf dem Nachtkästchen platziert hat, daneben Tablettenspender, Schnabeltasse, Blumen und Wasserflasche, ein Glas mit Wasser und Strohhalm. Ich stelle mich vor, und wir unterhalten uns kurz. Ich bemerke immer wieder seinen reflexartig verzerrten Gesichtsausdruck, wenn ein Schmerzschub durch seinen Körper fährt, gefolgt von seinem regelmäßigen Druck auf die Schmerzmittelpumpe, die an seinem Bett angebracht ist. Meinem Vorschlag, miteinander zu beten, stimmt er zu, und wir beginnen auf seinen Wunsch hin mit dem Rosenkranz. Noch nicht mit dem Glaubensbekenntnis zu Ende, unterbricht er, es werde ihm „zu stark“ und er möchte alleine sein. Als ich mich verabschieden will, bittet er mich, ihm das Weihwasserfläschchen zu reichen und ihm mit Weihwasser „ein Kreuzerl zu geben“. Er will auch mich mit dem Weihwasser segnen. Wegen seiner fortgeschrittenen Lähmungserscheinungen hebt er mit dem weniger beeinträchtigten Arm den anderen mittlerweile fast völlig gelähmten Arm in Richtung meines Kopfes, mit dem ich ihm entgegenkomme.

Tage später besuche ich diesen Patienten erneut, ihm scheint es an diesem Tag etwas besser zu gehen. Wir unterhalten uns anfangs über die Natur, später lässt er sich über mich erzählen, und schließlich kann ich nicht anders, als ihm zu sagen, dass mich sein nach wie vor offensichtlich starker Glaube unglaublich beeindruckt. Antwort dieses Mannes: „Sonst wäre es überhaupt nicht mehr auszuhalten“. Wir beten zum Abschluss noch kurz miteinander, segnen uns wieder gegenseitig. Ich fühle mich reich beschenkt und mir geht auf, dass auch im Kreuz, im Leid, Heil sein kann, ein Heilwerden möglich ist, und warum das Kreuz Christi dafür ein so entscheidendes Symbol ist.

Es geht auch in der Sterbebegleitung nicht darum, Leid zu verklären! Vielmehr geht es um ein gemeinsames, oft auch wortloses, Aushalten des Leides, darum, das Kreuz des Anderen so wie Simon von Cyrene ein Stück weit mitzutragen. So kann es manchmal geschehen, dass gegen Ende des Weges statt der „Warum ich?!“-Frage die gewandelte Frage steht: „Warum eigentlich nicht ich?“