Am Flughafen Dublin wurde ich von Margarete Cartwright abgeholt. Das übliche „How are you?“ beantwortete ich erwartungsgemäß mit „Fine, the flight was great.“ Natürlich war ich jetzt an der Reihe zu fragen „How are you?“ Die Theologin blieb mitten in der Ankunftshalle stehen und erzählte mir traurig, wie sie gerade von einem Seminar an einem katholischen College der Universität Dublin kommt, das im Sommer schließen wird. „Vieles, was mit Religion zu tun hat, geht in Irland derzeit den Bach runter.“
Cartwright ist die Direktorin von Vocations Ireland, der Organisation für Berufungspastoral, die mich zusammen mit dem Institut für Spiritualität eingeladen hatte. Beim Abendessen mit typisch irischen Spezialitäten wurde ich auch gleich mit der tristen Situation der irischen Kirche vertraut gemacht. Die Ordensleute und Priester seien in die Defensive geraten, sie verstecken sich geradezu und kämpfen mit dem schlechten Image der Kirche, ja des christlichen Glaubens überhaupt. Michael O’Sullivan SJ erzählte mir, dass Studenten beim Speziallehrgang für Spiritualität das Wort „katholisch“ mitunter geradezu verabscheuen und sich von christlicher Spiritualität nicht viel erwarten, sondern auf andere Traditionen abfahren und ethische Auseinandersetzungen suchen.
Für mich war Irland gänzlich Neuland. Zwar wusste ich, dass die irische Kirche gehörig ins Taumeln geraten ist, aber was ich da hörte und in den nächsten drei Tagen erlebte, das hatte ich nicht erwartet. Irland, nie Teil des römischen Reiches gewesen, wurde ja sehr früh schnell missioniert, der heilige Patrick steht für diese Blüte ab dem Jahr 432. Die Wikinger (Normannen) plünderten ab 800 immer wieder die wohlhabenden Klöster, durch die Zisterzienser kam es ab 1142 zu einer neuen Klosterkultur. Von daher ist auch verständlich, dass es nur ein einziges Benediktinerkloster gibt (Glenstal), aber etliche Zisterzienser- bzw. Trappistenklöster.
Ab dem 16. Jahrhundert kam es zu teilweise harter Verfolgung der katholischen Iren im jahrhundertelangen Kampf gegen die englische, d.h. protestantische Besatzungsmacht. Oliver Cromwell (+1658) versuchte etwa, die englische Herrschaft über Irland mit grausamen Mitteln zu festigen; 20% der irischen Bevölkerung starben. Die katholische Tradition wurde systematisch zerstört, Kirchen wurden abgerissen, kirchliches Eigentum konfisziert. Die Ermordung unzähliger Priester hat sich ebenso ins Gedächtnis der Iren eingeprägt wie die Ausrottung ganzer Konvente. Nur zu verständlich, dass sich starke Bande zwischen Irländern und ihrer katholischen Kirche in der Verfolgungszeit entwickelten. Bis vor kurzem war das Verhältnis zwischen Großbritannien und Irland mehr als gespannt. Meine Gastgeber erzählten mir mit glänzenden Augen, wie Queen Elisabeth II im Jahr 2011 in Dublin sich für die englische Gewalt über die Jahrhunderte entschuldigte und dabei die richtigen Worte und Gesten fand.
Erst 1829 wurde den Katholiken wieder Zugang zu den öffentlichen Ämtern gewährt und ihnen das passive Wahlrecht zugestanden, bis 1868 war die protestantische Church of Ireland Staatskirche. Nun war die Kirche frei – Priester oder Ordensfrau zu werden war ein Statusgewinn, die katholische Kirche war plötzlich die vom Staat bevorzugte Konfession. Für das Verständnis der heutigen religiösen Landschaft ist es wichtig, sich hineinzudenken, was dann geradezu die logische Folge war: Der katholische Glaube beherrschte alles, wurde zuweilen auch als oppressiv erlebt. Die irische Selbständigkeit ging einher mit der Hegemonie der katholischen Kirche, die naturgemäß auch eine (aus heutiger Sicht intolerante) Kontrolle des sozialen Verhaltens ausübte. Kirchenkritiker sprechen heute von der jahrzehntelang eingeimpften Angst, zu sündigen, besonders hinsichtlich des sechsten Gebots. Mir sagten Theologen dagegen, dass die vergangenen 150 Jahre in der öffentlichen Meinung zu negativ und auch falsch gezeichnet würden; sie und ihre Familien hätten den Glauben immer als Angebot und in großer Freiheit erlebt. Und man dürfe doch nicht die enormen caritativen, bildungsmäßigen und seelsorglichen Einsätze so vieler Priester und Ordensleute über die Jahrzehnte schlechtreden. Aber dennoch dürfte etwas an der Kirchenkritik dran sein und uns einmal mehr zeigen: Wo die Kirche allzu mächtig wird, im gesellschaftlichen und staatlichen Bereich Vorherrschaft beansprucht und ausübt, folgt eine Welle der Säkularisierung. Je katholischer ein Land, desto deutlicher die Abwendung vom Glauben unter heutigen pluralistischen Bedingungen. Das lässt sich schon seit der Französischen Revolution in Frankreich beobachten, gemildert seit der Aufklärung auch bei uns, nun in Irland und vielleicht auch schon in Polen (obwohl gerade dort die Kirche eine Kirche des Volkes im besten Sinn war und in kommunistischen Zeiten als Hort der Freiheit erlebt wurde).
Nun hat sich die irische Gesellschaft in den letzten Jahren rasant geändert, die Kirche dagegen kaum. Tony Flannery schreibt in seinem Buch The Death of Religious Life, das ich mir in Vorbereitung auf meine Vorträge in Irland angeschaut habe: „It would appear to be true that the larger an institution, and the longer and more glorious its lifespan, the more inadequate it is in the face of change.“ Das erlebt derzeit die irische Kirche: Aus einer triumphalen Haltung heraus erscheint sie plötzlich als veralteter Dinosaurier, der sich schwer in seiner neuen Umgebung zurechtfinden, geschweige denn wohl fühlen kann. Gerade von der Jugend wird die Kirche als abgehoben, out of touch erlebt. Einige in den Orden und Pfarren benehmen sich noch immer so, als hätte sich nichts geändert und wäre nur die Gesellschaft in die Irre gegangen und man brauche nur zu warten, bis sie reumütig zurück kehre.
Irland – drastisch die Glaubenserosion in den Familien; der Glaube ist fast nur durch Religionslehrer präsent – und das sei problematisch, denn „faith is caught, not taught“, schreibt John Littleton im Buch Contemporary Catholicism in Ireland: A Critical Appraisal. Er ruft in Erinnerung, dass man den Glauben im täglichen Leben übernehmen und einüben muss, nicht nur in zwei Religionsstunden; Lehrer, Katechisten und Priester können zumeist nur aufnehmen und formen, was bereits zuhause praktiziert wird. So steht Irland in Sachen Religion in gewisser Weise wieder am Anfang und muss schmerzlich erleben, dass eine Hochphase der Glaubenspraxis oft einen umso drastischeren Niedergang nach sich zieht.